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Das geheime Leben der Singles

Written on December 2, 2007 by DeansTalk in Arts & Cultures & Societies

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Von Michael Allmaier

Die Zeit

Sie gelten als ideale Kunden und Arbeitnehmer – ledig, flexibel. Doch manchmal sind sie auch etwas wunderlich

Die Verwandlung beginnt auf dem Heimweg. Den ganzen Tag ist Holger ein Teamspieler gewesen. Er hat den Geschäftsplan fürs nächste Quartal durchgebracht. Beim Mittagessen Kunden gebauchpinselt. Für die Betriebsratswahl Stimmen ausgezählt. Auf der Weihnachtsfeier das Rentier gespielt. Eine Mitarbeiterin getröstet, die sich einredet, sie habe Krebs. Nun sitzt er in der U-Bahn zwischen Fremden, die in Gedanken schon bei ihrer nächsten Rolle sind: als Ehemann oder Mitbewohner, als Freundin oder Mutter. Auf Holger wartet keine Rolle. Er freut sich. Bald ist er allein.

Jeden Abend verwandeln sich solcherart an die 15 Millionen Deutsche. Sie verlassen die Welt, in der man spricht, scherzt, streitet, liebt, und betreten ihre eigene. Sie werden zu Singles. Was sie dann tun, darüber wissen wir wenig. Beim Alleinsein ist nun mal schlecht zusehen. Versuchen wir es trotzdem.

Holger gibt’s nicht. Er ist erfunden. Ein Ottonormalsingle nach der Statistik. Genauer: nach der bislang gründlichsten Studie, die der Mainzer Soziologieprofessor Stefan Hradil für das Bundeskanzleramt erstellte. Darin liest man über Singles, dass sie vor allem im mittleren Alter auffallend zahlreich geworden sind. Es sind mehr Männer darunter als Frauen. Sie haben eine bessere Ausbildung genossen als der Durchschnitt und arbeiten oft als höhere Angestellte. Sie leben in der Großstadt, wählen ein wenig links von der Mitte und gehen nicht in die Kirche. Sie nutzen öffentliche Verkehrsmittel, treiben Sport, rauchen. Sie gehen gern aus und sind nicht geizig, wenn es um ihr Vergnügen geht. Sie pflegen sechs, sieben Freundschaften, fühlen sich gut – und sind schon seit Jahren allein.

Hier verlässt uns die Statistik, die mittlerweile zwölf Jahre alt ist. Die Zahl der Singles ist seither weiter gestiegen. Forscher haben sie durchleuchtet auf schlimme Kindheitserlebnisse, Geistesstörungen, sexuelle Absonderlichkeiten. Vergebens. Bis heute erklärt keine Tabelle, warum so viele normal wirkende Menschen ein Leben führen, um das die anderen sie bedauern.

Holger sagt im Büro nicht, er sei Single. Er weiß ja, an wen die Kollegen dann denken. An die Sekretärin aus der Buchhaltung, die, kaum drei Wochen getrennt, in jeder Kaffeepause über Schweine im Allgemeinen und das Schwein im Besonderen herzieht. An den Archivar, der tagelang dasselbe Hemd trägt und mit sich selbst spricht.

So ist das wohl bei jeder Minderheit: die Schrillen und Schrulligen prägen das Bild. Nur dass die Singles streng genommen gar keine Minderheit sind. Die allermeisten von ihnen haben sich nicht gegen die Partnerschaft entschieden, höchstens gegen einen bestimmten Partner. Sobald der Richtige kommt, werden sie aufhören, Singles zu sein, und das am liebsten für immer. Bis dahin sagen sie gern: »Ich suche noch«, im Tonfall von »keine Kompromisse!«. Holger fühlt sich wohl als der Bummelstudent seines Herzens. Es ist ja nicht auf Dauer. Schon ziemlich lange nicht.

Es ist kurz nach acht, als Holger, beladen wie ein Packesel, die Treppen zu seinem Appartement hochsteigt. Es wird meistens kurz nach acht. So schafft er es gerade noch, auf dem Heimweg die Hemden von der Reinigung abzuholen und Lebensmittel einzukaufen. Wer immer das Wort Torschlusspanik erfand, er hatte sicher einen Supermarktangestellten vor Augen, der Punkt 20 Uhr schulterzuckend den Eingang absperrt.

Im Briefkasten liegt eine Menge Post. Alles Drucksachen, die können noch liegen bleiben. Holger nimmt nur die Zeitung heraus. Die liest er dann morgen zum Frühstück; das spart wieder einen Weg. Als Abendlektüre hat er sich Unterlagen aus dem Büro mitgebracht. Holger liebt es, wenn die Leute fragen: »Was machst du mit all der Zeit?«

Singles waren mal Rebellen. Zumindest in der Vorstellung der anderen. »Swinging Singles« nannte man sie in den Swinging Sixties und dachte dabei an junge Leute, die ungebunden ihre Lust auslebten. Doch nur zu bald erwies sich, dass beides zusammen schlecht geht. Die Swinger sind in der Schmuddelecke gelandet als die kläglichen Überreste des Traums von der freien Liebe.

Die Singles jedoch haben den Marsch durch die Institutionen angetreten und es weit darin gebracht. Viele von ihnen leben heute bürgerlicher als manche Familie. Begegnete ihnen das große Glück, müssten sie erst mal in den Terminkalender schauen. Sicherheit und Bestätigung gibt ihnen ihre Arbeit.

Man hat Singles gefragt, woran ihre letzte Beziehung gescheitert sei. Die meisten nannten berufliche Gründe. Zu herzlosen Karrieristen macht sie das nicht. Aber sie rechnen da, wo andere es nicht tun. In der Welt der Singles ist die Partnerschaft so etwas wie bei Paaren die Verliebtheit: wunderschön, so lang sie hält. Doch besser, man denkt auch an das Leben danach.

In vielen Berufen haben es Singles leichter, kurzfristig jedenfalls. Sie sind das, was der Soziologe Richard Sennett »flexible Menschen« nennt. Das klingt gut, ist aber nicht so gemeint. »Flexibel« heißt bei Sennett: zurechtgeknetet von den Kräften des Marktes, der sich seinen idealen Arbeiter formt. Einen, der jeden Standortwechsel mitmacht und die Überstunden nicht zählt. Der seine Wohnung nur als Pausenraum nutzt, oder noch besser: als zweites Büro.

Wenn Holger abends heimkommt, findet er alles exakt so vor, wie er es morgens zurückließ. Niemand hat den Rest Milch ausgetrunken und niemand das Glas gespült. Nur Donnerstage sind anders. Da kommt die Putzfrau. Holger freut es, wenn sie ein paar Dinge verrückt. Das bringt Leben in die Bude. Paare haben so was täglich, denkt Holger. Aber kennen die auch das herrliche Gefühl, die Türe hinter sich zuzuziehen und zu wissen, von nun an ist Ruhe? Holger schließt immer zweimal ab. Manchmal nach stressigen Tagen verriegelt er sogar die Badezimmertür, wenn er drin ist. Privatsphäre muss sein.

Nichts sei barbarischer, als allein zu essen, lehrte Epikur im 23. Jahrhundert vor Erfindung der Mikrowelle. Holger ficht das nicht an. Er kennt alle gängigen Tiefkühlpizzen. Die kauft er gern. Manchmal auch Schlemmerfisch à la Bordelaise. Hauptsache, was zum Backen. Man schiebt es rein, vergisst es und freut sich, wenn der Geruch aus der Küche dringt: Essen ist fertig. Dann deckt Holger den Tisch im Wohnzimmer und speist mit Anne Will.

Allein haushalten ist leicht geworden. Kein Single steht mehr beim Einkaufen ratlos vor Kartoffelsäcken und Klopapierungetümen. Die Warenwelt schrumpft sich auf ihn ein. Besuch bei Edeka am Mühlenkamp in Winterhude, einem der Singleviertel von Hamburg. Die Pfandmünze kann man gleich wieder einstecken. Hier verkehrt nicht die Kundschaft, die Einkaufswagen klaut. Oder auch nur benutzt. Zur Stoßzeit am Abend sieht man vornehmlich junge Leute mit Körben. Darin sind die erstaunlichsten Dinge: Carpaccio in der 100-Gramm-Packung mit je einem Beutelchen Olivenöl, Zitronensaft und Parmesan. Frische Ananas, fein zurechtgeschnitten wie die aus der Dose. Für die Allerfaulsten sogar vorgebratene Omeletts mit Speck.

»Singles wollen Zeit sparen«, sagt Bernd Enge, der Prokurist. »Die lassen lieber uns für sich kochen und essen dann beim Lesen, Fernsehen, Surfen.« Und, anders als das Klischee es will, beileibe nicht nur Junkfood. Gleich am Eingang des Marktes liegt der Convenience-Bereich mit einer gewaltigen Auswahl an Sandwiches, Wraps, Dipgemüse, Pasta, Sushi samt einer zehn Meter langen Salatbar – alles von fünf Mitarbeitern täglich frisch zubereitet. Gleich dahinter ein Kühlregal mit Getränken. »Für die, die nicht daran gedacht haben, sich daheim etwas kalt zu stellen, oder konstant nicht dran denken wollen.« Vorratshaltung, hat Enge bemerkt, trifft man nur bei Familien und Senioren. Der Single kauft für den Moment.

Beim Preisvergleich in der Konservenabteilung fällt auf, dass die kleinen Dosen kaum billiger sind als die großen. Es geht den Singles offenbar nicht um Kostenersparnis, eher darum, nichts wegwerfen zu müssen. Bernd Enge erklärt sich das so: »Die haben daheim ja keinen, zu dem sie sagen können: Isst du das mal auf?« Auffallend gut geht die Feinkost, Verwöhneinheiten für den solitären Abend. Wer will, kann sich ein Achtgängemenü aus ebenso vielen Ländern mit nach Hause nehmen, alles in mundgerechten Portionen. »Vielfalt ist ganz entscheidend«, sagt Enge. So können die Singles sich nach jedem Einkauf selbst überraschen mit neuen Produkten. Sie haben ja keinen, der sie überrascht.

Holger geht noch mal nach draußen. Er hat keine Lust, aber heute ist Sporttag. Und er muss fit bleiben. Singles sterben früher, liest man ja immer wieder. Saufen und rauchen vor lauter Frust und kommen nicht mehr aus ihrem Bau. Irgendwann stehen sie dann in der Zeitung, Rubrik grausige Funde. Ohne mich, denkt sich Holger und stellt den Crosstrainer auf Power Walk ein. Das Studio ist gleich um die Ecke und hat bis spätabends geöffnet. Um diese Zeit gehört es den Singles.

An sich arbeiten, das ist auch so ein Single-Ding. Manche lernen Sprachen, andere gehen zum Therapeuten, wieder andere stürmen im Neonlicht Gipfel. Punkte sammeln nennt Holger das. Mit jedem ausdefinierten Muskel, meint er, steigen seine Chancen im Leben ganz allgemein.

Schau an. Ipanema ist wieder da, sie steigt auf das Bike gegenüber. So hat Holger die junge Frau getauft, die sein Lächeln niemals bemerkt. Er wird warten, bis sie müde ist, und später an der Vitaminbar zufällig auf sie stoßen. Sie wird ihm sagen, dass sie Angst hat, im Dunkeln nach Hause zu gehen. Könnte er sie nicht ein Stück begleiten?

Singles sind die wahren Romantiker, jedenfalls manche. Mit dieser kühnen Behauptung konnte die Journalistin Sasha Cagen in den USA einen Bestseller landen. Mochten andere Autoren über verkümmerte Gefühle lamentieren, sie drehte den Spieß um. Wir warten eben lieber auf unseren Traumpartner, schreibt sie in ihrem Buch Quirkyalone, als uns in freudlosen Kompromissbeziehungen die Hoffnung auf Besseres zu rauben. Und wenn wir dabei ein bisschen quirky, kauzig, werden, dann nur aus innerem Reichtum.

Das Buch ist gespickt mit den Steckbriefen erfolgreicher, attraktiver und vor allem fröhlicher Singles. Die Autorin bildet keine Ausnahme. Als muntere Blondine von vielleicht dreißig Jahren lacht sie vom Buchrücken den Leser an, der prompt ins alte Denkmuster zurückfällt: »Ach, und die ist allein?« Mittlerweile gibt es Quirkyalone-Internetforen. Man verabredet sich zu Partys, die ausdrücklich nicht der Anbandelung dienen, sogar zu einem landesweiten Jahrestreffen am Valentinstag. Sasha Cagen verdient nicht nur am Buch, sondern auch an Quirkyalone-T-Shirts und -Buttons. Und falls sie ihren Traummann gefunden hat, dann trifft sie ihn sicher nur heimlich.

Ein Ziehen in der Wade beendet Holgers Tagtraum noch vor dem ersten Kuss. Ipanema strampelt locker weiter auf ihrem Rad ohne Räder, auch dann noch, als er aus der Umkleidekabine zurückkommt. Das sind die feinen Unterschiede, denkt Holger. Die ist zwanzig; ich fühl mich nur so.

Holger mag keine Singlefilme. Da wird seine Rolle immer von Hugh Grant gespielt, und alle Zuschauer denken: Unglaublich, dass dieser schöne Mann keine Frau findet. Holger sieht nicht aus wie Hugh Grant. Er hält das für einen Teil des Problems.

Die Populärkultur meint es verdächtig gut mit den Singles. Von Bridget Jones bis Ally McBeal, von Hornby bis Houellebecq erfindet sie immer neue Vorbilder. Eine Studie des Grimme-Instituts hat ermittelt, dass es in deutschen Fernsehfilmen mehr als doppelt so viele Singles gibt wie in Wirklichkeit. Singles, die sich verlieben, um die Welt reisen, Verbrechen aufklären, allein aus der Stadt reiten – was immer das Genre verlangt. In der Welt des Fernsehens sind sie der Normalfall und Familien eine Randerscheinung. Sieht man mal eine, dann läuft wahrscheinlich eine Komödie oder ein Trennungsdrama.

Heißt das, Singles sind in und Familien out? Wohl eher das Gegenteil. Familien ruhen in sich selbst. Sie brauchen keinen Fernseher, der sie an die Vorzüge ihres Lebens erinnert. Lieber mal für zwei Stunden Single sein – als umschwärmte Schönheit oder einsamer Rächer. Dem Single-Zuschauer wiederum schmeicheln seine überlebensgroßen medialen Vertreter. Nun gut, er selbst ist schon länger aus keiner Stadt mehr geritten. Aber das muss ja niemand wissen.

Anscheinend sind solche Illusionen in letzter Zeit begehrter geworden. Zwar können die Singles über Diskriminierung nicht klagen. Vorbei die Zeit, als sie im Restaurant gefragt wurden, ob sie »schon mal« in die Karte schauen wollten, als Familien sie im Urlaub aus lauter Mitleid adoptierten, als sie auf Hochzeiten an den Einsame-Herzen-Tisch kamen. Doch politisch sieht es anders aus. Was wird aus uns, wenn das alle so machen? Diese Frage steht im Raum.

Vor vier Jahren aktualisierte Stefan Hradil seine Singlestudie mit dem Aufsatz Vom Leitbild zum Leidbild. Darin sagt er dieser Gruppe schwere Zeiten voraus: »Viele Menschen, die mit anderen zusammenleben, projizieren offenbar ihre oft uneingestandenen Hoffnungen und Ziele, aber auch ihre Frustrationen und Befürchtungen auf die Singles.« Und heute, wo »Gemeinschafts- und Sicherheitswerte im Denken der Menschen nach vorn gerückt sind, muss der Stern der Singles sinken, weil deren Leben doch gerade das Gegenteil dieser Werte signalisiert.«

Aus solchen Zukunftsängsten formt sich das Feindbild des egoistischen Singles. Oft in Gestalt der Karrierefrau, die der berufstätigen Mutter den Job streitig macht und später deren Kindern ihre Rente verdankt. Der Soziologe Bernd Kittlaus, Betreiber der Website www.single-luege.de , führt seit Jahren einen einsamen Kampf gegen falsche Zahlen und haltlose Spekulationen in der Berichterstattung über Singles. Für ihn kann es kein Zufall sein, dass so viele Autoren sich nach oben verrechnen: Sie zählen Haushalte als Personen und Alleinlebende als Partnerlose. Sie machen aus einem leichten Anstieg ein hysterisches »Immer mehr«. Und fertig ist das Schreckensszenario, worin Abermillionen Sozialautisten die Solidargemeinschaft aushöhlen.

Hinter all dem vermutet Kittlaus »das nationalkonservative Paradigma«, wie er es nennt; einen rechten Klüngel, der Eltern und Singles gegeneinander aufhetzt, um einen Familienbegriff von anno dazumal durchzusetzen. Aber vielleicht ist die Erklärung viel schlichter: Die Singles haben in unserer Gesellschaft die Opferrolle abgelegt. Nun sind sie vorn mit dabei, auch dann, wenn Schuld verteilt wird. Untätigkeit ist auch eine Tat.

Es klingelt an der Tür. Holger überschlägt den Aufwand. Jetzt aufmachen, das hieße erst einmal: die Pizzakrümel wegsaugen. Das nasse Handtuch von der Türklinke nehmen. Die Sportsachen in den Schrank pfeffern. Und natürlich sich umziehen. Daheim schlüpft Holger immer als Erstes in seine Jogginghose und ein ausgeleiertes T-Shirt. Sehr bequem, aber leider nicht sehr kleidsam. Darum hält Holger wenig von unangekündigtem Besuch. Aufmachen bringt nur Ärger. Morgens der Paketbote, der etwas abgeben will für die Nachbarin. Abends dann die Nachbarin, die das Paket abholen will. So kommt eins zum anderen.

Das könnte sie übrigens sein. Holger hört Schritte. Was bedeutet: Sie hört ihn auch. Sie weiß, dass er da ist. Wie unangenehm. Holger stellt den Fernseher leiser. Die Nachbarin wohnt auch allein, wie die meisten im Haus. Sie wirkt nett. Eigentlich sollte er sie mal kennenlernen, wie im Werbespot mit den gespülten Gläsern. Doch aufmachen? Schade. Jetzt ist sie schon weg.

Die Versinglung ist ein Großstadtphänomen, am ausgeprägtesten in Berlin. In mehr als der Hälfte aller Haushalte lebt nur eine Person. Im Stadtteil Friedrichshain-Kreuzberg beträgt der Anteil zwei Drittel. Der Makler Jürgen Michael Schick und der Hausverwalter Ulrich Löhlein erklären, was das bedeutet.

Zunächst der Run auf eine bestimmte Art Wohnung: »Klassischer Berliner Altbau, gern in einem der belebtesten Viertel. Geräuschemission von Restaurationsbetrieben wird als wohnwertsteigernd empfunden. Abgezogene Dielen, Doppelkastenfenster, hell gefliestes Bad mit Wanne, Spülmaschinenanschluss in der Küche. Mindestens zwei Zimmer, manchmal drei, von denen eins nur zum Bügeln benutzt wird. Balkon ist auch wichtig – zum Kühlen der Getränke.«

Mit anderen Worten: so komfortabel, wie das Einkommen es hergibt. Darum werden Singles bisweilen als Wohnraumfresser verdammt. Der Branche sind sie nicht unlieb. Hohe Fluktuation, dafür hohe Mieten. Kleine Wohnungen kosten mittlerweile kaum weniger als große. Doch der Makler wie der Verwalter sehen auch Gefahren in der Vereinzelung.

Für Jürgen Michael Schick liegen sie darin, dass aus dem Provisorium ein Dauerzustand wird: den unausgepackten Umzugskartons, den Glühbirnen an der Decke. »Da sagt man, wenn einer nach Jahren auszieht: ›Ach, Sie haben die Lampe schon abmontiert.‹ Es war aber nie eine dran.« Auch mit dem Immobilienkauf als Altersabsicherung werde immer länger gezögert. Das rührt wohl daher, dass man dann entscheiden muss, wie man künftig leben will. Und Singles legen sich nicht gern fest, schon gar nicht auf ein Singleleben.

Der Verwalter Ulrich Löhlein erinnert daran, dass Alleinlebende nicht immer Yuppies sind, sondern oft auch gescheiterte Existenzen ohne Geld und ohne Freunde – Muss-Singles, wie er sie nennt. Und das zurückgezogene Wohnen, das die einen als Erholung vom Großstadtgewimmel empfinden, wird für die anderen mitunter zur Falle. »Mancher weiß ja kaum, ob der Typ, der nebenan die Tür aufmacht, auch wirklich sein Nachbar ist.« Und Fremde bittet man nicht um Hilfe.

Aber auch damit sind die Singles schon gar nicht mehr so allein. Der jüngste Trend auf dem Berliner Kleinwohnungsmarkt: ein Concierge. »Das ist wie die Rezeption im Hotel«, erklärt Schick. »Da sitzt jemand, der aufpasst, aber auch mal Päckchen annimmt, Zähler abliest oder Wäsche in die Reinigung bringt. Und das nicht nur in Luxusapartmentanlagen, sondern in normalen Mietshäusern.« Auch Löhlein erhofft sich etwas davon. »Das ist im Grunde ein altes Konzept: die gute Seele im Erdgeschoss, die nach dem Rechten sieht.« Und heute muss sie ja nicht einmal mehr sagen: »Kein Damenbesuch nach zehn.«

Nach den »Tagesthemen« legt Holger den Grundstein für ein gemeinsames Leben. Acht Grundsteine, genauer gesagt. So viele Kandidatinnen aus der Singlebörse sind derzeit in seiner engeren Wahl. Pech gehabt, jetzt nur noch sieben. Mondkalb findet, »wir sind zu verschieden«. Die könnte ein bisschen dankbarer sein. Immerhin hat er ihr wochenlang geschrieben. Mystera fragt nach seinem Aszendenten. Du liebe Güte, die wird gleich gelöscht. Von vollweib braucht er noch das Foto. In ihrem Profil steht, sie isst gern. Verdächtig. Aphrodite74 sagt, sie mag romantische Typen. Holger schickt ihr einige Zeilen über einen Sonnenuntergang auf Menorca. Die kamen schon bei traumhexe123 gut an. Jetzt müssen noch zwei neue Kontakte her, um die weggefallenen zu ersetzen. Ein mühsames Geschäft, diese Liebe.

Das Synchronflirten im Internet ist zum Volkssport geworden. Es gibt Singlebörsen für jeden Bedarf, für Weinliebhaber, Zwillinge, Muslime. Wie viele Deutsche so einen Partner suchen, weiß niemand. Die Portale stehen im Ruf, ihre Mitgliederzahlen erheblich zu schönen. Addiert man ihre Angaben, kommt man leicht auf 20 Millionen. Aber selbst die vorsichtigsten Schätzungen lassen vermuten, dass wenigstens jeder zweite Single irgendwo registriert ist.

Am eifrigsten sucht Henning Wiechers. Der Kölner Wirtschaftsinformatiker ist bei über 200 Singlebörsen Mitglied, von der »wissenschaftlich fundierten« Partnervermittlung bis zum virtuellen Kontakthof. Allerdings nur dienstlich, als Tester. Auf seiner Website www.singleboersenvergleich.de warnt er vor versteckten Kosten, Datenschutzverletzungen und Männern, die sich als Frauen ausgeben. Die großen Anbieter zahlen ihm dafür Provision. Manchmal unterscheidet sich seine dienstliche Meinung ein wenig von seiner privaten. Dann sagt er von einem seiner Testsieger: »Ich selbst finde den schrecklich.« Doch auf die Börsen an sich lässt er nichts kommen: »Überlegen Sie mal, wie oft Sie in die Disco gehen müssten, um so viele Verabredungen zu kriegen.«

Das leuchtet ein. Onlinedating fügt sich nahtlos ins Singleleben. Man sitzt entspannt daheim am Rechner, statt sich an Orten herumzudrücken, für die man allmählich zu alt wird. Und mit den gleichen bewährten Mitteln, die den Beruf beherrschbar machen, kümmert man sich nach Feierabend um die Liebe.

Hier wird jeder zum Personalchef, er besetzt den Platz an seiner Seite. An Kandidaten mangelt es nicht. Sie bewerben sich artig mit ihrer Akte und einem Anschreiben. Man muss nur entscheiden, wen man zum Vorstellungsgespräch einlädt – und damit klarkommen, dass man zugleich selbst ein Bewerber ist, der ebenso rigoros ausgesiebt wird. Aber zumindest herrscht hier keine Herzensverwirrung, sondern die berechenbare Logik des Marktes. Ein vorteilhaftes Foto, ein originelles Profil, ein charmanter Brief werden sogleich mit Aufmerksamkeit belohnt. Aber das macht Arbeit. »Es ist ein harter Kampf um Aufmerksamkeit«, sagt Henning Wiechers. Nach seinen Berechnungen verbringt der normale Singlebörsennutzer insgesamt viereinhalb Stunden die Woche in vier verschiedenen Portalen.

In der Comedy-Serie Mad TV gab es einmal eine Partnerbörse mit dem gehässigen Namen Lowered Expectations, gesenkte Erwartungen. So mag es früher gewesen sein, als Damen und Herren »im besten Alter« sich darum mühten, »nach einer schweren Enttäuschung« doch noch in »den Hafen der Ehe« einzufahren. Heute müsste man im Gegenteil von gesteigerten Erwartungen sprechen. Wer schon ein paar Hundert Euro, zahllose Stunden und ein Quäntchen Stolz investiert hat, für den lohnt nur mehr die große Liebe. Wiechers sagt: »Es gibt so etwas wie Onlinedating-Sucht. Dass jemand sich nicht mehr binden kann, weil er immer denkt: Morgen gibt’s einen Besseren.«

Wie sollen sich die Anbieter dazu verhalten? Einerseits brauchen sie Erfolge. Andererseits leben sie davon, dass möglichst viele Mitglieder möglichst lang suchen. Also tun sie, was Kaufhäuser tun, damit die Kundschaft länger bleibt: Sie machen es ihr bequem. Es gibt allerlei kostenlose Ratschläge, Rundbriefe, persönliche Nachrichten und Coaching für die Enttäuschten, währenddessen sich die Mitgliedschaft automatisch verlängert. Entsprechend sorgfältig achten die Börsen darauf, dass kein Kunde durch Aufdringlichkeit oder unseriöse Offerten verprellt wird. Wer einen Verehrer satt hat, wird ihn per Mausklick auf Nimmerwiedersehen los – auf Wunsch sogar mit einer Trostformel nach Wahl. Es ist ein System, das seinen Nutzern die Nöte echter Rendezvous erspart. Man flirtet in kleiner Münze, um nicht zu sagen: mit Spielgeld. Holger überlegt, die Börse zu wechseln. Warum nicht gleich Second Life?

Zahnputzspaziergang durch die Wohnung. Sehr ökonomisch, findet Holger. Die eine Hand bürstet, die andere räumt auf. Früher wäre er um die Zeit ausgegangen. Heute wüsste er nicht mehr, mit wem. Die Freunde sind noch da. Sie melden sich regelmäßig, so regelmäßig, wie man Weihnachtskarten schreibt: »Was machst du denn so? Also wir…« Dann erzählen sie von diesen Dingen, zu denen Holger nichts beitragen kann. Wie schwer es ist, einen Kindergarten zu finden. Was es kostet, die Gastherme zu warten. Und Holger hört immer nur »Wir«. Wir wollen, wir müssen… – woher wissen die das? Er weiß ja kaum, was er selbst will. Er kannte die Wirs schon, als sie noch Ichs waren. Aber einer nach dem anderen verlässt das Boot. Oder ist er es, der vom Ufer aus winkt, während das Boot ohne ihn ablegt?

Die Paare sehen in Holger einen, der stehen geblieben ist in einem Stadium, das bis Mitte zwanzig Postadoleszenz heißt und danach keinen Namen mehr hat. Der so gern alte Zeiten beschwört, weil er die neuen noch nicht kennt. Für Holger wiederum sind die Paare Zurückgefallene, die, einer unerbittlichen Mechanik folgend, so werden wie ihre Eltern. Wie soll er sich fühlen, wenn Menschen, mit denen man Nächte durchgefeiert hat, nun zu Kaffee und Kuchen einladen? »Es kommen Daniela und Frank, Wolfgang und Sophie und«, Bruch des Paarschemas, »du«. Wenn Singles andere Singles treffen, suchen sie oft gar keinen Partner. Es ist schon viel, jemanden zu finden, der im gleichen Rhythmus lebt.

Darum reisen Singles mit gemischten Gefühlen. »Viele machen im Pauschalurlaub die Erfahrung, dass sie eine Woche lang ohne Ansprechpartner am Katzentisch sitzen«, sagt Otto Witten. Er ist Geschäftsführer des Reiseveranstalters Sunwave, der sich auf Singlereisen spezialisiert hat. »Echte« Singlereisen, wie Witten gern betont. Also nicht bloß das Standardprogramm mit Einzelzimmerrabatt, sondern Kleingruppen mit ausgewogener Alters- und Geschlechterverteilung. Lauschige Hotels, eine Begrüßungsrunde, gemeinsame Abendessen am großen Tisch.

Und nach dem Essen hoch die Tassen, mit Orangentanz und Flaschendrehen? »Wir haben das mal probiert und festgestellt, dass aufgesetzte Kennenlernspiele bei unseren Gästen zu Schockzuständen führen«, sagt Witten. Seitdem gilt die Devise: Nichts Psychologisches.

Große Hoffnungen auf ein gemeinsames Leben nach dem Urlaub will der Veranstalter seinen Kunden nicht machen. Vielleicht jeder Zehnte treffe einen Reisegefährten daheim wieder, und dann eher als Tennispartner denn als Geliebten. Trotzdem, meint Witten, gebe es nichts Besseres für Singles, die jemanden finden möchten: »Die meisten sitzen ja nur im Internet und werden nicht klüger, dafür dicker.«

Ein Hotel voller Singles stellt man sich anstrengend vor: Die einen baggern, die anderen nörgeln, und der Rest sitzt verschüchtert in der Ecke. Ist aber gar nicht so, sagt Witten. »Das sind mit wenigen Ausnahmen ganz normale, aufgeschlossene Menschen.« Nur eine Besonderheit fällt ihm auf: »Man merkt, unter welchem beruflichen Druck die stehen.« Kennenlernen – gern, aber bitte stressfrei. Aktivitäten am Urlaubsort – nicht so wichtig; man ist im Job schon genug unterwegs. »Die meisten wollen bloß mit Gleichgesinnten ein paar ruhige Tage verbringen.« Davon werden sie auch nicht klüger, aber brauner, was immerhin ein Fortschritt ist.

Holger wechselt noch einmal den Bildschirm. Rechner aus, Fernseher an. Es ist schon nach Mitternacht. Eine Frau in Strapsen keucht: »Ruf an!« Holger schaudert. Er fühlt sich ertappt. Woher weiß die, dass er allein ist?

Bei Paaren gibt es das wohl nicht, dass ein Tag so ausfranst. Da teilt einer dem anderen die Zeit ein. »Kann ich das Licht ausmachen?« – »Kommst du bald nach?« Holger fühlt sich daneben wie ein Kind, dessen Eltern auf Kegeltour sind. Das plötzlich alles darf und doch nichts Besseres weiß als lange aufbleiben und fernsehen.

»Man kann sich nicht selbst Gutnacht sagen«, schreibt Max Frisch in Homo Faber. Aber man kann jemanden zuschalten, der das übernimmt, in jeder gewünschten Stimmlage. Das Bedürfnis der Alleinlebenden nach Ansprache wird heute so gründlich versorgt wie das nach Verabredungen oder Convenience-Food. Nicht umsonst schafften die Privatsender gleich nach ihrer Zulassung den Sendeschluss ab. Gerade nachts wird vielen der Fernseher zum Freund.

Jürgen Domian ist das öffentlich-rechtliche Gegenprogramm zum Sex-, Schund- und Quizangebot der Privaten, vielleicht sogar das Gegenprogramm zum Fernsehen überhaupt. Denn eigentlich ist es der Mitschnitt einer Radiosendung, die der WDR an fünf Nächten von ein bis zwei Uhr überträgt. Während dieser Stunde sieht man bloß einen Mann mit einem Headset, der sich kaum rührt und auch nicht viel spricht. Meist macht er erst mal nur »Hmmh … hmmh«, während ein Anrufer mit blecherner Stimme skurrile bis schreckliche Dinge erzählt. Da gab es den Mann, der sich seine Geliebte zurechtknetete – aus sechzig Kilo Hackfleisch. Das Kind, das um diese Zeit noch auf war, weil es am selben Tag bei einem Unfall seine Eltern verloren hatte. Oder die Frau, die nur ihre Freude über einen Lottogewinn teilen wollte und sonst niemanden wusste. Für das, was er »eine Mischung aus Entertainment und medialer Seelsorge« nennt, erhielt Jürgen Domian 2003 das Bundesverdienstkreuz.

Er empfängt den Besucher im verwaisten Studio des Kölner Senders Eins Live. Es ist kurz vor Mitternacht, in seinem Tagesrhythmus Nachmittag. Das Sandmännchen der Singles ist ein liebenswürdiger, zurückhaltender Mann, der selbst darüber staunt, dass seine Variante von Talk Radio nach zwölf Jahren noch immer an Quote zulegt. »Anscheinend fehlt vielen das persönliche Umfeld. Die Chat-Welt trägt zur Unverbindlichkeit der Beziehungen und zur Vereinsamung bei.« Ist er denn nicht selbst Teil dieser Welt als an- und abschaltbarer Freund, der alles erträgt und nichts erwartet? »Ja, wir sind Teil davon. Aber wir versuchen das abzufedern, so gut es geht.«

Um kurz vor eins betritt Domian den Aufnahmeraum und 200.000 Wohnzimmer. Wieder sagen Anrufer »Du, Domian« zu ihm, »ich muss dir was erzählen«. Der Mann, der sich selbst einen Einzelgänger nennt und schon durch seine Nachtschichten dazu verdammt ist, ist ihnen zum Vertrauten geworden. Ein Kind und ein Hund wurden schon auf seinen Namen getauft.

Unglaubliche 40.000 Anrufversuche registriert die Telekom pro Sendung. Um die 150 kommen zu den drei Telefonisten durch, die Betrunkene und Simulanten aussortieren. Manchmal auch Selbstmordgefährdete, die ihren großen Abgang vor Publikum aufführen möchten. Diesmal gibt es keine Zwischenfälle. Nur eine Frau, die nicht versteht, dass sie ins Fernsehen muss, um mit Domian zu sprechen. »Die meisten vergessen, dass sie auf Sendung sind«, hat er erzählt. Wer ihn bei der Arbeit sieht, spürt: Ein wenig geht es ihm noch selbst so. Eine große Uhr an seinem Platz muss ihn an die zehn Minuten erinnern, die er sich als Richtzeit für ein Gespräch gesetzt hat.

Punkt zwei heißt es dann: »Gute Nacht, ihr Lieben!« Fünf Gespräche waren es diesmal. Die Themen: Tod, Sex, Tod, Tod und Sex. Etwas eintönig, oder? Domian lacht: »War doch alles Wichtige dabei.« Er wird noch drei, vier Stunden auf sein, vielleicht über den einen oder anderen Anrufer nachdenken und ob er ihm das Richtige geraten hat.

Domian ist das menschliche Antlitz einer Unterhaltungsmaschine, die sonst nicht zimperlich ist. Nach 18.000 Gesprächen hört man keinen Hauch von »Und wenn schon« in seiner Stimme. Was man hört, wenn man es hören will, ist ein Trost für jeden, der nur mit einem Fuß im Abseits steht: Du bist normal, dir geht es gut, und so allein bist du gar nicht. »Wir sind die Kerze im Fenster«, hat Domian gesagt. Ein bisschen Licht kann ja nicht schaden. Zumindest manchmal um halb zwei.

Gute Nacht, Domian. Holger geht schlafen. Rechte Seite diesmal oder linke? Das Bett ist ein unkartografierter Sektor ohne jemanden, an dem man sich ausrichten kann. Natürlich ein Doppelbett. Das haben doch jetzt alle. Einzelbetten sieht Holger nur mehr bei Paaren, die sich auf getrennte Schlafzimmer verständigt haben. Allein schläft man eben besser, das merken die irgendwann auch.

Ein leeres Bett macht keine Angst mehr, wenn sich die Frage nicht mehr stellt, wer da liegen sollte, wenn einem einfach niemand mehr einfällt. An den Platz der Sehnsucht tritt die Sehnsucht nach Sehnsucht; und irgendwann verschwindet auch die. Wenn das Licht aus ist, denkt Holger nicht an Schafe und nicht an Menschen. Er denkt sich eine Luftmatratze im Ozean, die sachte schaukelt, während er darauf einschläft. Manchmal wacht er nachts auf und sagt: »So geht es nicht weiter.« Zum Glück ist keiner da, der es hört.

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